Der Maghreb im Spiegelbild des Orientalismus
Edward W. Saïd hat im Jahr 1978 den Begriff Orientalismus als eurozentristischen Blick des Westens durch eine aus historisch gewachsenen Vorurteilen vorgefertigte Art Linse auf die Kulturen des Nahen und Fernen Ostens bzw. die ganze östliche Hemisphäre geprägt. Insbesondere der arabische Welt wurden besondere Konnotationen zugeschrieben, welche – wenn überhaupt – die Realität nur bruchstückhaft widerspiegelten. Die Stereotype zeigten dabei langfristig eine ungeheure Konstanz, selbst Reiseberichte stellten zumeist nur die Lebensumstände dar, welche den aus den Metropolen mitgebrachten schablonenhaften Erwartungshaltungen entsprachen.
Die Märchen aus Tausendundeine Nacht und ihre Wunderwelt mit fliegenden Teppichen, Flaschengeistern, Fakiren, heulenden Derwischen, fatalen Liebesgeschichten und Tänzerinnen in Harems mit Eunuchen als Wärtern bleiben in vielen Köpfen eine unreflektierte Realität aus Exotismus, Stereotypen und letzten Endes Stigma – Klischees, welche bis in den »Fernen Osten« reichen konnten.
Die kulturelle Vielfalt des Maghrebs (Tunesien, Algerien, Marokko, mitunter werden auch Libyen und Mauretanien dazu-gezählt) fällt nach wie vor häufig diesem reduktionistischen okzidentalen Blick-winkel zum Opfer. Es wird dabei gerne über einen Kamm geschert und neben kulturellen Differenzen vorislamische Wurzeln, wie z. B. bei der Amazigh-Kultur (Pl. Imazighen: Endonym/Selbstbezeichnung – »Berber«: ursprünglich Exonym/Fremdbezeichnung, heute teilweise Endonym), ausgeklammert.
Vor allem die dem Islam verallgemeinernd zugeschriebenen Geschlechterrollen dienen immer wieder als Aufhänger und entbehren dabei einer differenzierten Betrachtungsweise. Dem die öffentlichen Angelegenheiten regelnden Mann dient die auf ihrem Kopf Wassergefäße schleppende Frau als Gegenbild. Der »kriegerische Wüstensohn« geht am liebsten auf Löwenjagd oder Raubzüge, während sich die Frauen in Abwesenheit der Männer im Müßiggang üben und musizieren.
Die Frau ist vielerorts keineswegs rechtlos, sondern verfügt beispielsweise in vielen nun islamischen Gesellschaften und Familien über eine nicht zu unterschätzende Macht im eigenen Haushalt, gerade auch durch ihre Rolle als Erzieherin der Kinder, insbesondere des erstgeborenen Sohnes.
Neben individuellen, kulturellen und regionalen Unterschieden – beispielsweise nehmen Frauen bei den Imazighen und hier in erster Linie den Tuareg traditionell eine eher bedeutende Position ein – werden auch Klassenunterschiede außer Acht gelassen. Ein unterschiedliches Bildungsniveau zieht häufig auch einen divergierenden Umgang zwischen den Geschlechtern nach sich.
Die heutigen Vorurteile sind deutlich älter und sitzen wesentlich tiefer als die aktuellen Konflikte. Den Gesellschaften des Maghreb wurde vor allem in der Kolonialisierungsphase des 19. und 20. Jahr-hunderts die okzidentale Maske aus vorgefertigten Klischeevorstellungen als Herrschaftsinstrument übergestülpt.
Neben einem einigenden Band wurden dabei auch divergierende Spielarten des Orientalismus in den einzelnen westlichen Nationen mit teilweise spezifischen Ausformungen von Stereotypen des »Orients« geschaffen. Als narrative Kulturkonzeptionen pendeln diese zwischen präziser Beobachtung, selektiver Momentaufnahme und rassistischer Diskriminierung.